Vogelsberger Sagen und Erzählungen
In jeder Vogelsberger Erzählung, jeder Sage, steckt ein Teil des etwas „eigenartigen“ Charakters der Bevölkerung, der ganz treffend in einer heimischen Kirchenchronik beschrieben wird:
„Was an dem Vogelsberger vor allen Dingen auffällt, ist ein gewisses, ernstes, immer ausgewogenes Benehmen, das er zur Schau trägt. Ja, in dem Bewusstsein, niemals von seiner Würde etwas vergeben zu dürfen, haben seine Bewegungen sogar viel Eckiges, Hartes. Die Leichtfertigkeit, mit der sich z.B. der Rheinländer zu bewegen weiß, mangelt ihm vollständig. Sie würde ihm auch durchaus unangemessen erscheinen. Dieselbe Ruhe, derselbe Ernst zeigt sich auch in seiner Ansprache, seiner Auffassung. Er überlegt erst gründlich, ehe er urteilt und die „Wenn“ und „Aber“ haben oft kein Ende. Aber was er einmal als Recht erkannt hat, daran hält er fest. Wenn es nötig ist vertritt er es so gut bei den Höchstgestellten, wie bei den Niedrigsten. Man kann ihm infolge dessen nur schwer zur Begeisterung für etwas fortreißen. Aber wenn man ihn einmal dahin gebracht hat, dann ist sie auch ehrlich und anhaltend. Sie verfliegt nicht so leicht. Möglich, dass sich aus dieser vorsichtigen, ruhigen Überlegungsweise auch sein conservativer Sinn erklärt. Er hängt fast an allem Alten. Was die Väter getan, das war immer gut und tüchtig. Zu dieser Zähigkeit am Halten am Alten kommt sein überaus redlicher Sinn. Es war, wie mir von verschiedener Seite oft mitgeteilt wurde, eine oft gehörte Redensart, dass die Leute so ehrlich seien, dass man getrost einen Wagen mit Ketten und Allem in der Nacht auf der Straße stehen lassen könne, ohne befürchten zu müssen, dass auch nur die kleinste Kette genommen werde. Diebstahl und Raub sind infolgedessen fast unbekannte Laster.
Desto verbreiteter sind Process- und Streitsucht. Gerade weil der Vogelsberger Bauer so ungemein zäh an dem einmal für Recht erkannten hängt, deshalb ist er so leicht geneigt, wo seine Eigentumsinteressen mit denen seines Nachbarn zusammentreffen, nicht einen Zoll nachzugeben.“
Der Vogelsberg ist dünn besiedelt. Man lebt in Dörfern, von denen sich einige zu Kleinstädten entwickelt haben. Einzelhöfe gibt es selten. Früh hatte man sich zu Lebensgemeinschaften zusammengeschlossen, wenn auch alte Urkunden die Existenz der Orte viel später erwähnen. Man suchte Schutz im Zusammenleben, wollte dadurch die Angst vor den dunklen, verborgenen, unerklärlichen und unerforschlichen Mächten verdrängen, die draußen ihr Unwesen trieben, wenn der Wind heulte, Wetter tobten. Die Phantasie entwickelte Märchen und Geschichten, projizierte Geister und Hexen, Teufel und Wilde Jäger in die Wälder, auf Wiesen und Felder, in die Lüfte und unter die Erde, und die Menschen „sagten“ diese Erzählungen von einer Generation zur anderen weiter.